Autopilot Scham

Scham – wie geht’s dir, wenn du dieses Wort hörst?
Hast du ein Bild, eine Körperwahrnehmung, Gedanken dazu?
Oder ist da ein Fragezeichen?
Ein stilles: „Hab ich nicht.“

Scham ist subtil.

Sie ist leise, unauffällig – und allgegenwärtig.
Sie wirkt wie ein Pilzgeflecht: verborgen, aber durchdringend.
Sie ist der Autopilot, der dich unbemerkt steuert.
Es sei denn, du beginnst, sie zu erkennen.

Ich beschreibe Scham gerne als ein Pilzgeflecht:
Gefährlich im Dunkeln – nützlich im Licht.

Ein feines, unsichtbares Geflecht, das dich unbewusst dirigiert.
Deine Lebenslust, deine Sichtbarkeit, deine Beziehungs- und Liebesfähigkeit beeinflusst.
Dich lenkt, dich ermahnt –
und manchmal sogar im Bett zwischen dir und deinem Partner liegt.

„Sag das lieber nicht – du bist sicher die Einzige, die …!“
Kennst du das?

Oder du willst mit deinem Kind auf den Spielplatz und plötzlich sagt etwas in dir:
„Nein, da gehen wir jetzt nicht mit. Da sind die anderen, die sicher …“

Oder du stehst auf dem Schulhof, siehst andere Eltern – und denkst:
„Ich sag lieber nicht Hallo …“

Die Beispiele sind endlos.
Und sie alle haben einen gemeinsamen Nenner: Scham.

Was ist Scham eigentlich?

Wissenschaftlich betrachtet ist Scham eine soziale Grundemotion.
Sie entsteht, wenn wir glauben, gegen gesellschaftliche oder persönliche Normen verstoßen zu haben –
und dadurch im Innersten als „nicht zugehörig“, „nicht genug“ oder „nicht richtig“ empfunden zu werden.

Neurobiologisch aktiviert Scham das limbische System
insbesondere die Amygdala, unser emotionales Alarmsystem.
Der Körper reagiert mit Erstarrung, Rückzug oder innerem Kollaps.
Scham signalisiert:
Ich bin in Gefahr, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.

Im Unterschied zur Schuld („Ich habe etwas falsch gemacht“) bezieht sich Scham auf das Selbst:
„Ich bin falsch.“
Und genau darin liegt ihre zerstörerische Kraft –
aber auch ihr transformierendes Potenzial.

Scham fühlt sich an wie die Wahrheit. Und der Wahrheit wird geglaubt.

Sie flüstert dir leise, aber eindringlich ins Ohr: Du bist nicht genug. Warte lieber noch – jetzt ist nicht der richtige Moment. Andere können das besser als du. Wenn du es nicht perfekt machst, dann lass es gleich ganz. Und überhaupt – das solltest du doch längst überwunden haben.

Was dann passiert?
Wir ziehen uns zurück. Verstecken uns – innerlich oder äußerlich.
Wir geben klein bei, schweigen, machen uns unsichtbar.
Oder wir gehen in den Gegenangriff: schreien, kritisieren, entwerten.
Hauptsache, wir müssen nicht fühlen, was wirklich da ist.
Hauptsache, niemand sieht, wie sehr wir uns schämen.

Scham ist ein Super-Gefühl.

Nicht, weil sie angenehm wäre – sondern weil sie so viel in sich trägt.

Sie ist kein einzelnes Gefühl, sondern ein komplexes Geflecht aus Emotionen: Angst, Verzweiflung, Verwirrung, Kälte, Wut, Einsamkeit, manchmal sogar Selbsthass.

Und gleichzeitig wohnt ihr fast immer etwas anderes inne: eine tiefe, oft unausgesprochene Sehnsucht. Gesehen zu werden. Geliebt zu werden – genau so, wie du bist.

Scham ist jener Moment, in dem alles in dir einfriert. Wo dein System sich schlagartig verschließt. Wo du dich zurückziehst, stumm wirst – und glaubst: Ich bin nicht richtig.

Doch Scham ist nicht dein Feind. Sie ist ein Wegweiser. Sie zeigt dir, wo du dich noch schützt – und wo du heute freier entscheiden darfst. Wo du beginnen kannst, dich selbst liebevoll zu halten, statt dich klein zu machen.

Du wirst Scham nie ganz loswerden – also lerne, sie zu nutzen.
Der erste Schritt?

  • Erkenne deine Schammuster.

  • Geh auf Forschungsreise.

  • Lerne, sie zu benennen.

  • Dann: akzeptieren. Nicht bekämpfen – sondern integrieren.

Und das geht nicht allein.

Denn Scham sagt dir immer wieder:
„Du bist die Einzige, der es so geht.“

Deshalb brauchst du Zeuginnen.
Menschen, mit denen du teilen kannst und die sagen: “Gott, das kenn ich.” oder good old “me too”.

Wenn wir Scham teilen, verliert sie ihre Macht.

Es geht nicht darum, laut zu werden oder provokant.
Es geht darum, sanft zu werden.
Erlaubend.
Dich in den Arm zu nehmen, wenn wieder eine Stimme in deinem Inneren flüstert:
„Du bist nicht genug.“

Du kannst diesem Flüstern glauben.
Oder du kannst dich dir selbst zuwenden – und antworten:

„Zeig mir, wovor ich Angst habe.
Was ich nicht sehen will, das meine Sehnsucht ist.“

Und dann:
eine neue Richtung wählen.
Deine Richtung. Zu dir.

Auch wenn du erst glaubst, du wirst dort ganz allein sein –
lass dich überraschen.

Scham ist der Ort, an dem wir uns begegnen.

Vielleicht zum ersten Mal:
Mit echter Nähe.

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Wenn Scham uns lenkt – und wir es fast übersehen hätten

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Erst Chaos – dann Ankommen