Wenn Scham uns lenkt – und wir es fast übersehen hätten

Gestern Abend waren wir eingeladen.
Eine zarte, neue Freundschaft.
Ein Abend ums Feuer, ein gemeinsames Essen.

Für mich ein Geschenk – hier, neu im Land, ist jede Begegnung mit Resonanz kostbar.

Ich war zuständig, etwas zum Essen mitzubringen.
Der Tag war voll: Ferienbeginn, Jiu-Jitsu-Training von Merlin, das Nachbarskind bei uns, Arbeit, Blumenfeld, Wochenabschluss...
Ich plante das Essen – und Harry sollte es fertig machen.

Der Teig verbrennt.
Harry sagt: „Das geht schon – wir füllen das schön, das wird wunderbar.“

Und ich?
Ich raste aus.
Sag ihm, dass er sich um gar nichts kümmert, zu spät kommt, nie alles macht – immer ich…

Zuerst habe ich ihn beschuldigt.
Dann kam der Trotz:
„Dann geh ich halt allein! Wem das so wenig wert ist, der soll bleiben, wo er ist.“

Und dann – Gott sei Dank – hab ich's erkannt:
Scham.

Ich will dazugehören.
Und es ist so verletzlich, eingeladen zu sein.
Hinter der Perfektion meines Abendessens wollte ich das verstecken.

Ha. Ertappt.

Zum Glück kann ich’s inzwischen benennen.
Zum Glück wissen wir in unserer Beziehung,
wie es ist, Scham-Mustern auf die Spur zu kommen.

Ich konnte mich aufrichtig entschuldigen.
Und es ist angekommen.

Uff. Wieder was geschafft. Wieder was gelernt. Wieder ein Stück näher.

Spotlight on:
Vier Reaktionsmuster auf Scham

Was mir hilft, ist zu verstehen, wie Scham sich zeigt.
Oft wirkt sie nicht direkt, sondern durch unsere Reaktionen – körperlich, gedanklich, im Verhalten.
Manchmal können wir rückblickend spüren: Da war Scham im Spiel.

Liv Larsson hat mich hier inspiriert mit ihrem Scham-kompass, den ich sehr hilfreich und praktisch anwendbar finde. Sie beschreibt vier typische Reaktionsmuster, mit denen wir versuchen, Scham zu vermeiden oder zu kompensieren:

1. Unterwerfung
Wir ziehen uns zurück, verstummen, machen uns unsichtbar.
Wir zeigen nicht, was wir brauchen – aus Angst, nicht das Recht dazu zu haben.
Gedanken wie:
„Ich brauche nichts. Ich komme schon zurecht.“
„Ich kann das eh gleich vergessen.“
führen oft in Resignation oder Depression.

2. Angriff – die Schuld bei anderen
Wir werden laut, kritisch, verletzend.
Die Scham wird überdeckt durch Wut nach außen.
„Wieso macht der Trottel das nicht richtig?“
„Die sollten doch wissen, wie das geht!“
Wir attackieren – um nicht fühlen zu müssen, was uns eigentlich wehtut.

3. Selbstvorwurf – die Schuld bei mir
Der innere Kritiker wird aktiv.
Wir greifen uns selbst an – bevor es jemand anderes tun kann.
„Ich hätte das wissen müssen.“
„Ich bin so ein Versager.“
Wir nehmen uns selbst aus dem Spiel – bevor wir uns zeigen müssten.

4. Rebellion
Wir flüchten in den Trotz:
„Ihr könnt mich alle mal.“
„Ich brauche niemanden.“
Wir machen uns unabhängig – und verlieren dabei die Verbindung zu unseren Bedürfnissen:
Nähe, Gemeinschaft, Anerkennung.
Kühl, autonom, unangreifbar – aber auch einsam.

Diese vier Muster sind keine Fehler.
Sie sind Schutzstrategien.
Aber sie stehen echter Verbindung im Weg –
zu anderen, und zu uns selbst.

Und jetzt?

Beobachte dich.
Nicht wertend – sondern neugierig.

Wo wirkt Scham in deinem Leben?
Wo lenkt sie dich – fast unbemerkt?
Wo schützt du dich mit Wut, Rückzug, Selbstkritik oder Unabhängigkeit?

Und wo könntest du – mit etwas Mut – sagen:

„Ich schäme mich gerade.“
„Ich will dazugehören.“
„Ich habe Angst, nicht gut genug zu sein.“

Diese Sätze sind nicht klein.
Sie sind mutig.
Und sie öffnen den Raum für echte Begegnung.

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Wie du dich würdevoll aus Verstrickungen lösen kannst

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